Friedrich Andreas Stapf, 42, der sich in seiner Praxis im hessischen
Landkreis Offenbach auf ambulante Schwangerschaftsabbrüche spezialisiert
hat, ist Verfasser einer "Erklärung", deren mehr als 170 Unterzeichner
aus der Ärzteschaft sich zu legalen Abtreibungen bekennen. Die Ärztinnen
und Ärzte werfen den Ländern Baden- Württemberg, Bayern und
Niedersachsen vor, zu verhindern, daß in ihren Grenzen "Nach Bundesrecht
zulässige, qualifizierte ambulante Einrichtungen zum
Schwangerschaftsabbruch" geschaffen werden - Folge: "Tausende von
Frauen" seien jährlich gezwungen, aus Bayern und Baden- Württemberg nach
Hessen oder aus Niedersachsen nach Bremen zu fahren, um dort abtreiben
zu lassen.
SPIEGEL: Herr Stapf, Sie haben sich auf Schwangerschaftsabbrüche
spezialisiert. Warum?
STAPF: Eine Freundin von mir hat 1968 eine Abtreibung vornehmen
lassen, bei einem alten Arzt, der das ohne Vollnarkose und ohne
Lokalbetäubung wie ein Metzger gemacht hat, und da bin ich umgekippt.
Dann habe ich mir gesagt: Das machst du mal anders und besser.
SPIEGEL: Empfinden Sie den Begriff "Abtreibungsarzt" als Schimpfwort?
STAPF: Nein.
SPIEGEL: Radikale Abtreibungsgegner, etwa in der CSU, bezeichnen
Ihresgleichen als "Mörder" und "Embryonenkiller".
STAPF:
Ich fühle mich
nicht als Mörder. Schwangerschaftsabbrüche wurden
juristisch von jeher anders beurteilt als Mord oder Totschlag, sie
gehören zum Leben wie das Kinderkriegen. Es gibt keine zwei Arten von
Frauen - solche, die abtreiben, und andere, die Kinder gebären; es gibt
nur Frauen, die schwanger werden und dann das ihrer Meinung nach jeweils
Richtige tun.
SPIEGEL: Im bayrischen Memmingen steht der Frauenarzt Dr. Horst
Theissen wegen unerlaubter Schwangerschaftsabbrüche vor Gericht. Ist Ihr
Appell, der bereits von mehr als 170 Ärzten unterstützt wird, vor allem
ein Akt kollegialen Beistands?
STAPF: Unsere Erklärung hat mehr mit den Folgen dieses schlimmen
Prozesses zu tun. Theissen hat verantwortungsvoll gehandelt, er hat nur
dann, wenn seiner ärztlichen Erkenntnis nach eine Notlage bestand, einen
Abbruch gemacht. Man wirft ihm nun vor, er habe auch abgetrieben, wenn
keine Notlage bestanden habe. Genau das aber können und dürfen Richter
gar nicht beurteilen; entschieden werden muß laut Gesetz "nach
ärztlicher Erkenntnis". Allenfalls ein medizinischer Gutachter kann
hinterher sagen, ob ein Arzt falsch gehandelt hat.
SPIEGEL: Welche Auswirkungen hat der Memminger Prozeß auf die
Ärzteschaft?
STAPF: Das Memminger Verfahren schüchtert die süddeutschen Ärzte ein.
Wegen dieses Verfahrens können viele Frauen kaum noch eine Indikation
bekommen. Die Ärzte dort haben Angst vor der bayrischen und der
baden-württembergischen Justiz. Viele sagen: Um Gottes willen, der
Staatsanwalt in meiner Praxis - das will ich nicht.
SPIEGEL: Sie selber leben in Hessen und registrieren die Folgen des
süddeutschen Anti-Abtreibungs-Kurses in Ihrer eigenen Praxis.
STAPF: Ja. Es gibt in Bayern nur noch wenige Ärzte, die Indikationen
stellen oder gar eine Abtreibung riskieren. Viele Kollegen zittern, die
rufen dauernd hier an, und sie sagen ihren Patientinnen: Geht mit meinem
Beratungs- oder Indikationspapier gleich nach Hessen.
SPIEGEL: Für die Geschäfte hessischer Ärzte ist diese Entwicklung
nicht eben abträglich.
STAPF: Was heißt Geschäfte? Natürlich verdient ein Arzt auch Geld mit
einem Schwangerschaftsabbruch, das ist schließlich eine Operation. Aber
es ist eine üble Unterstellung, wenn der Stuttgarter CDU-Kultusminister
Gerhard Mayer-Vorfelder behauptet, wir würden Frauen nicht von einer
Abtreibung abraten, weil wir finanzielle Interessen hätten.
SPIEGEL: Sie und Ihre Mitstreiter setzen sich dafür ein, daß
Schwangerschaftsabbrüche wohnortnah vorgenommen werden können, auch in
Süddeutschland.
STAPF: Ja. Wenn eine Frau beispielsweise erst vom Bodensee nach
Hessen angereist ist, hat sich ihr Entschluß zum Abbruch schon
zementiert. Ich sage vielen Frauen, überlegen Sie sich's noch mal, mit
Ihrem Freund und mit allem Pro und Contra. Ich kann allerdings der von
weither gereisten Frau nur schwer klarmachen, daß sie wieder nach Hause
fahren soll. Trotzdem schicke ich sie weg, wenn ich den Eindruck habe,
daß sie sich noch nicht klar entschieden hat.
SPIEGEL: Was für Frauen kommen aus Süddeutschland in Ihre Praxis?
STAPF: Vor allem die Teenager-Schwangerschaften kommen fast immer aus
Bayern und Baden-Württemberg, so was gibt's in Hessen gar nicht mehr,
weil die Jugendlichen dort besser über Möglichkeiten der
Empfängnisverhütung informiert sind. In Baden-Württemberg sollen die
Lehrer im Unterricht ja nicht einmal über Verhütungsmittel reden; das
Kondom soll dort nur in Verbindung mit Aids-Prophylaxe erwähnt werden.
SPIEGEL: Unionspolitiker wollen die steigenden Abtreibungszahlen mit
Medienkampagnen stoppen, für die zum Beispiel in Baden-Württemberg sechs
Millionen Mark ausgegeben werden sollen. Sie selber behaupten, daß
solche Kampagnen den betroffenen Frauen eher schaden als nützen.
STAPF: Ja, das sehe ich so. Die angesprochenen Frauen fragen sich:
Bin ich schlecht, bin ich eine Mörderin, wenn ich schon vier Kinder
habe, vierzig Jahre alt bin und kein Kind mehr will? Die Leute, die mit
Aktionen gegen Abtreibung solche Frauen negativ abstempeln, tragen auch
die Verantwortung für die psychischen Schäden, die dadurch entstehen.
SPIEGEL: Was sind die Motive der Frauen, die abtreiben lassen wollen?
STAPF: Frauen lassen nicht leichtfertig abtreiben, sondern schweren
Herzens, weil sie keinen anderen Ausweg sehen. Mehr als vierzig Prozent
dieser Frauen haben schon ein oder mehrere Kinder. Frauen, die ledig
sind und schwanger werden, geben überwiegend an, daß der Erzeuger nicht
dazu steht. Zunehmend sind schwere soziale Mißstände der Grund für den
Schwangerschaftsabbruch. Mit Sicherheit läßt sich sagen, daß 20 bis 25
Prozent der Abbrüche wegen Geldmangels, Arbeitslosigkeit oder
Wohnungsnot verlangt werden.
SPIEGEL: Ein Zahnarzt aus dem oberschwäbischen Ravensburg will
Abhilfe schaffen, indem er ein privates Heim für alleinerziehende Mütter
baut, in Baden-Württemberg gibt es eine Versorgungsstiftung "Mutter und
Kind". Können solche Einrichtungen nicht dazu beitragen, die
Abtreibungsziffern zu senken?
STAPF: Solche Einrichtungen schon, aber mit Sicherheit nicht diese
Plakate, die jetzt in Baden-Württemberg geklebt werden und den Schutz
des ungeborenen Lebens propagieren sollen. Durchhalteparolen sind bei
erwiesener Notlage und Indikation kein Ersatz für eine Abtreibung.
SPIEGEL: Herr Stapf, haben Sie selber Kinder?
STAPF: Ja, eines, und das zweite kommt im Mai.
SPIEGEL: Würden Sie Ihrer Frau zu einer Abtreibung raten, wenn
gewichtige Gründe dafür sprechen?
STAPF: Wenn meine Frau einen Schwangerschaftsabbruch haben wollte und
ich dem zustimmen würde, dann müßte ein anderer Arzt die Indikation
stellen. Wir würden es uns dann sicher lange überlegen, und wenn es
erforderlich wäre, würde ich den Eingriff selber durchführen.