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NÜRNBERG |
An Dr. Andreas Freudemann (46) scheiden sich die
Geister. Für viele Frauen ist er der rettende "Engel". Doch der
Frauenarzt, der in seiner Praxis auf dem Gelände des Klinikums Nord in
Nürnberg jährlich rund 4000 Abtreibungen vornimmt, hat auch etliche
erbitterte Gegner, mit denen er sich schon vor Gericht stritt. Wie er
mit dieser Rolle umgeht, verriet er der AZ. |
AZ: Können Sie
eigentlich ruhig schlafen - oder plagt Sie Ihr schlechtes Gewissen?
Immerhin gibt es Zeitgenossen, die Sie in aller Öffentlichkeit als
"Massenmörder" bezeichnen... |
Das sind verbohrte Menschen,
die vernünftigen Argumenten gegenüber nicht aufgeschlossen sind und
eine fanatische Grundeinstellung haben. Der Rahmen, in dem ein
Schwangerschaftsabbruch legal vorgenommen werden darf, ist vom
Gesetzgeber festgelegt. Und an den halte ich mich. |
Der moralische Aspekt
Ihrer Tätigkeit zählt wohl nicht? |
Natürlich zählt er. Und sogar in hohem Maße.
Deshalb verstehe ich mich ja auch als eine Art "Anwalt" der Frau. Sie
ist es, die schwanger wird, und sie ist es, die die Autonomie über
ihre Willensentscheidung hat. Eine Schwangerschaft gegen den Wunsch
und Willen einer Frau aufrecht zu erhalten, halte ich weder für
sinnvoll, noch für human und ethisch. |
Und das ungeborene, menschliche Leben
spielt keine Rolle? |
Ein Embryo in den ersten Wochen, in denen
normalerweise eine Abtreibung vorgenommen wird, ist kein Mensch. Er
empfindet weder Schmerz noch Leid, was für mich der entscheidende
Maßstab ist. |
Mit dieser Einstellung werden Sie innerhalb
der katholischen Kirche, die sich ja gerade aus der
Schwangerenberatung zurückgezogen hat, nicht viele Freunde gewinnen. |
Die Glaubenszugehörigkeit der betroffenen Frau ist
bei einem Schwangerschaftsabbruch allenfalls ein untergeordneter und
letztlich zu vernachlässigender Aspekt. Entscheidend ist die Notlage,
in der sich eine Frau befindet. Und da gibt es keine sozialen,
religiösen und gesellschaftlichen Unterschiede. Die Diskussion um das
Für und Wider von Abtreibungen ist in erster Linie ein Politikum und
in Bayern noch mehr als in anderen Bundesländern. |
Ein Politikum? Das hört sich so an, als
ginge es gar nicht um den Kern der Sache. |
Genauso ist es. Verbote haben noch nie etwas
genutzt. Abtreibungen gab es schon immer, notfalls in irgend einem
Hinterzimmer und unter abenteuerlichen, risikoreichen Bedingungen. |
Das ist bei Ihnen
anders? |
Natürlich. Frauen, die zu mir
in die Klinik kommen, erwarten eine erstklassige, medizinische
Behandlung und dürfen dies auch erwarten. |
Sie nehmen täglich 15
bis 20 Schwangerschaftsabbrüche vor. Drängt sich da nicht der Eindruck
nach medizinischer Fließbandarbeit auf? |
Das mag für einen
Außenstehenden so erscheinen, trifft aber nicht zu. Ich bin lediglich
hochspezialisiert, wie Ärzte in anderen Bereichen auch. Das ist für
den einzelnen Patienten
ein Vorteil. Er kann sich darauf verlassen, dass der Eingriff von
einem Arzt vorgenommen wird, der sein Handwerk versteht. |
Hochgerechnet sind es
jährlich rund 4000 Schwangerschaftsabbrüche, die Sie vornehmen. Woher
kommen diese vielen Frauen? |
Aus dem gesamten
nordbayerischen Raum. |
Weil Sie hier der
einzige Arzt sind, der eine entsprechende Praxis betreibt? |
Ich bin der einzige Arzt im
nördlichen Teil des Freistaates, der fast ausschließlich
Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Daneben gibt es aber natürlich ein
ganze Reihe von Frauenärzten, die dies mehr oder weniger häufig auch
tun, aber nicht schwerpunktmäßig. |
Die Zahl der Frauen,
die schwanger sind und das Kind nicht haben wollen, ist erstaunlich
hoch. |
Das ist eine relativ konstante
Zahl, die sich über Jahre hinweg auf diesem Niveau eingependelt hat.
Beachtenswert ist allerdings die Tatsache, dass Abbrüche aus
überwiegend finanziellen Gründen häufiger werden. Da schlagen soziale
Aspekte durch, die von der schlechten Wirtschaftslage bestimmt werden.
Es wird in solchen Zeiten genauer hinterfragt, welche Perspektiven
sich auftun, ob man sich ein Kind leisten kann oder will. |
Steht diese
Entscheidung jeder Frau offen? |
Ja. Heutzutage kann jede Frau
abtreiben, wenn sie will. |
Weil die Formalitäten,
die bei einem Schwangerschaftsabbruch erforderlich sind,
leicht zu erfüllen sind? |
Erstens das, zum anderen aber
auch, weil die Kosten eines Abbruchs in vielen Fällen auf Antrag von
der Krankenkasse übernommen werden und dadurch kein finanzieller Druck
entsteht. |
Haben Sie den
Eindruck, dass es schwangeren Frauen heutzutage leichter fällt, einen
Abbruch vornehmen zu lassen? |
Ganz sicher nicht. Diese
Entscheidung macht sich keine Frau leicht. |
Woran erkennen Sie
das? |
Es ist ja nicht einfach so,
dass jemand zu mir kommt, sich auf den Behandlungsstuhl setzt, und in
ein paar Augenblicken ist alles erledigt. Die Frauen befinden sich
psychisch oft in einer sehr schwierigen Lage, sind hin- und
hergerissen von Zweifeln und Ängsten. Da bedarf es eines hohen Maßes
an Einfühlungsvermögen und Verständnis. |
Um sie von der
Notwendigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs zu überzeugen oder gar zu
überreden? Das ist schließlich Ihr Geschäft. |
Ich überrede niemanden. Ganz
im Gegenteil. Ich habe wiederholt Frauen nach Hause geschickt, weil
ich überzeugt war, dass sie die letzte Konsequenz ihres Handelns nicht
ausreichend bedacht hatten und ihre Zweifel zu groß waren. Das sind
keine geeigneten Voraussetzungen für einen Abbruch. |
Glauben Sie, dass die
Frauen bei ihrer Entscheidung von ihren männlichen Partnern
alleingelassen werden? |
Das lässt sich so pauschal
nicht beantworten. Dazu sind die Gründe, eine Schwangerschaft zu
unterbrechen, zu unterschiedlich. Manche Frauen kommen allein zu mir
in die Praxis, viele werden auch begleitet. Oft sind es dann
allerdings Freundinnen oder ein weibliches Familienmitglied. Männer
sind auf dem Feld der psychischen Betreuung gelegentlich weniger
geeignet. Während meiner achtjährigen Tätigkeit hier in Nürnberg sind
zwei Frauen, die beim Eingriff dabei waren, bewusstlos umgefallen,
aber mindestens 50 Männer. |
Der bereits erwähnte
soziale Aspekt in Zusammenhang mit der flauen Wirtschaftslage, der
eine Frau zu einem Abbruch bewegt, ist ja nur einer von vielen. Welche
Gründe spielen noch eine Rolle? |
Es gibt viel extremere Gründe.
Denken Sie nur an Frauen und junge Mädchen, die vergewaltigt und dabei
schwanger wurden. |
Was aber so häufig nun
auch wieder nicht vorkommt. |
Häufiger, als man denkt, und
viel häufiger, als den Statistiken zu entnehmen ist. Nach meiner
Einschätzung wird höchstens jede zehnte Vergewaltigung, die eine
Schwangerschaft zur Folge hat, bei der Polizei angezeigt. |
Woran liegt es, dass
eine vergewaltigte und schwangere Frau ihren Peiniger deckt? |
Eine nicht zu unterschätzende
Rolle spielt dabei sicherlich das offenbar nicht vermeidbare, aber
dennoch entwürdigende Schauspiel, dem das Opfer ausgesetzt ist. Es
mündet am Ende in einen öffentlichen Prozess, in dem intime Details
und oftmals komplizierte, für Außenstehende kaum nachvollziehbare
Beziehungsgeflechte vor neugierigen Zuhörern ausgebreitet werden. Das
wollen viele betroffene Frauen einfach nicht auch noch hinnehmen
müssen. |
Weil für sie die
Situation ohnehin schwierig genug ist? |
Vor allen Dingen, wenn sie
noch sehr jung sind. Mädchen im Alter von 14 oder 15 Jahren, deren
Leben für immer geprägt bleibt. |
Nicht alle Mädchen in
diesem Alter wurden infolge eines Sexualdelikts schwanger. |
Natürlich nicht. Aber Teenager
in diesem Alter haben heute häufiger Sex und mehr Partner, als dies
noch vor ein paar Jahren der Fall war. Dadurch gibt es auch mehr
ungewollte Schwangerschaften. |
Haben wir im Jahr 2002
wohl in dieser Hinsicht ein Teenager- Problem? |
Nein, da sind wir von
amerikanischen Verhältnissen noch ein gutes Stück entfernt. Dort gibt
es ein Teenager- Problem, dort werden junge Mädchen viel häufiger
schwanger als bei uns, dort finden viel häufiger Abbrüche in einem
sehr späten Stadium statt. |
Haben amerikanische
Teenager wohl noch mehr Sex als unsere bundesdeutschen Jugendlichen? |
Daran liegt es nicht. Die
fehlende Aufklärung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten
macht es aus. Und darunter haben vor allem unterprivilegierte
Bevölkerungsgruppen zu
leiden. |
Zurück an Ihren
Arbeitsplatz in Nürnberg. Ihre Praxis, die sie von der Stadt
angemietet haben und autonom betreiben, liegt auf dem Gelände des
Nordklinikums. Jeden Samstag pilgert ein gutes Dutzend
Abtreibungsgegner mit Kreuzen und Rosenkränzen vor den Haupteingang,
um gegen die Existenz Ihrer Praxis zu demonstrieren. Macht Sie das
nachdenklich? |
Über die ethischen Grundsätze
der Abtreibungs-Problematik denke ich nicht erst nach, seitdem diese
extremkonservative Glaubensgemeinschaft aufkreuzt. Ich habe mich schon
während meiner Ausbildung als Arzt dafür entschieden, ungewollt
schwanger gewordenen Frauen zu helfen, die Hilfe brauchen. |
Was hat Sie dazu
bewegt? |
Sehr beeindruckt hat mich ein
belgischer Arzt, der in den 70er Jahren verhaftet wurde, weil er
Schwangerschafts-Abbrüche, die damals tabuisiert und illegal waren,
trotzdem durchgeführt hat. In einer Pressekonferenz, die im Gefängnis
stattfand und vom Fernsehen übertragen wurde, kündigte er an - und er
war immerhin der angesehenste Frauenarzt des Landes - dass er nach
seiner Entlassung weitermachen werde. Eine imponierende Stärke. |
Abgesehen von
Anfeindungen der Abtreibungsgegner ist Ihre Tätigkeit als
Abtreibungsarzt selbst in Kreisen mancher Mediziner umstritten.
Brauchen Sie auch die mentale Stärke Ihres belgischen Kollegen? |
Ich brauche meine Stärke, um
meinen Beruf in einer möglichst hohen Qualität ausführen zu können.
Das ist nicht selten anstrengend, was ich merke, wenn ich mich nach
der Arbeit nach nichts anderem als Ruhe und Entspannung sehne. |
Macht Ihnen Ihr Beruf
Spaß? |
Er erfüllt mich auf jeden Fall
mit Befriedigung. Und vor allem dann, wenn ich einer geschundenen Frau
ein Stück ihrer verloren gegangenen Würde wieder zurückgeben kann. |
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Zur Person: |
Dr. Andreas Freudemann
(46), ein gebürtiger Badener (Freiburg), kam vor achteinhalb Jahren
nach Nürnberg und eröffnete auf dem Gelände des Nord-Klinikums eine
Abtreibungspraxis. Er brachte einschlägige Erfahrungen mit. Nach
seinem Medizinstudium war er ärztlicher Leiter von "Pro Familia" in
Bremen und nahm damals die ersten Abtreibungen vor. Doch es zog ihn in
den Süden der Republik zurück. In Nürnberg fand er nicht nur die
berufliche Aufgabe, die er haben wollte. Hier lernte er auch seine
Frau kennen, mit der er seit zwei Jahren verheiratet ist. |
Erschienen in
der Abendzeitung Nürnberg, Wochenende, 24./25. 8. 2002 |