Eva G., 42 Jahre
Ich hatte nicht damit gerechnet, überhaupt Schwierigkeiten nach der
Abtreibung zu haben. Ein zweites Kind war für mich undenkbar. Wir hatten
einen sechs Jahre alten Sohn, unsere Ehe war immer eine schwierige
Verbindung. Wir hatten wenig Zeit füreinander, arbeiteten viel, beide
fühlten wir uns überfordert, beide hatten wir ein schlechtes Gewissen,
weil wir uns zu wenig unserem Sohn widmeten. Und dann blieb meine Periode
aus, obwohl wir immer verhütet hatten, vielleicht habe ich die Pille
einmal ein wenig zu spät eingenommen, das will ich nicht ausschließen. Für
mich war vollkommen klar, dass ich das Kind nicht haben will.
Mein Mann hatte größere Probleme. Er wollte nicht ohne Not gegen das
Schicksal handeln, hätte sich prinzipiell über ein weiteres Kind gefreut.
Aber ich wusste, dass unsere Ehe eine erneute Kleinkindphase, erneute
durchbrüllte Nächte nicht überlebt hätte. Und dann? Hätte ich ein Kind in
die Welt gesetzt und ihm gleichzeitig die Familie zerstört. Das wollte ich
nicht. Ich habe mich beraten lassen und in der sechsten Woche abgetrieben.
Körperlich ging es mir gut. Anfangs schreckte ich nachts manchmal
schweißgebadet hoch, eine Zeit lang hatte ich unheimlich Angst um unseren
ersten Sohn. Heute, vier Jahre danach, habe ich mich mit der Entscheidung
ausgesöhnt. Nur manchmal ertappe ich mich dabei, mir zu überlegen, wie
dieses Kind wohl ausgesehen hätte, wie es gewesen wäre zu viert. Ich habe
eine Möglichkeit von mir gewiesen, die nie mehr kommen wird. Damit muss
ich jetzt zurechtkommen.
Tatjana Böhmler, 19 Jahre
Ich war 17, als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin. Ich war
gerade vier Wochen vorher von zu Hause ausgezogen, hatte das letzte
Realschuljahr begonnen. Ich war geschockt. Erst habe ich mich nicht
getraut, es jemandem zu erzählen. Trotzdem bin ich nach der Untersuchung
aus dem Krankenhaus gelaufen, und mir war klar: Ich kriege dieses Kind.
Das war für mich erst gar keine Frage. Ich wusste, dass mein
Lebensgefährte nicht begeistert sein würde. Aber ich dachte: Ich schaff
das auch ohne ihn. Schließlich bin ich auch ohne Vater groß geworden.
Meine Mutter hat mich super alleine groß gezogen.
Mein Freund war dann total dagegen. Ich musste bei seiner Familie
antanzen. Sie machten mir nur Vorwürfe, sie haben mich mit
Unverschämtheiten konfrontiert, mutmaßten, ich hätte das Kind geplant, um
ihn an mich zu binden. Am Ende zogen sie sogar in Zweifel, dass er der
Vater sei. Seine Mutter hat mich beiseite genommen und gesagt: Dir ist
schon klar, dass er dich sitzen lässt, wenn du das Kind austrägst. Alle
aus dieser Familie haben mich bearbeitet, alle haben gesagt, ich könnte
mit 17 keine gute Mutter sein. Bei Familienfeiern meines Freundes musste
ich eine Magen-Darm-Grippe vorschützen, weil ich dauernd spucken musste.
Niemand durfte die Schwangerschaft mitkriegen.
Zum Schluss habe ich nur noch funktioniert. Ich konnte schließlich gar
nichts Positives mehr an diesem Kind sehen. Dann habe ich mich knapp vor
Ende der Frist zum Abbruch entschlossen. Alles musste dann ganz schnell
gehen. Dienstags musste ich zum Beratungsgespräch und zur Krankenkasse
hetzen. Freitags war dann der Abbruch. Es war der letzte mögliche Termin.
Als ich in der Nacht vorher weinte, sagte mein Freund: „Was gibt es da zu
heulen?“ Für ihn war das nur ein Zellklumpen da unten.
Auch von der Beratungsstelle habe ich mich alleine gelassen gefühlt.
Als ich dorthin kam, war der Wisch schon ausgefüllt. Ich hätte mir
gewünscht, dass die Beraterin nochmal mit meinem Freund spricht, ihn
sensibilisiert. Aber das Gespräch war nach 15 Minuten beendet. Heute wäre
mein Kind ein Jahr alt.
Ich weiß, dass es schwierig wäre mit dem Kind. Aber manchmal glaube
ich, es wäre einfacher, als mit den Spätfolgen zu leben. Vor allem, dass
ich so spät abgetrieben habe, macht mir zu schaffen, schließlich hatte ich
mich mit dem Kind schon auseinandergesetzt. Ich bin ziemlich abgestürzt,
habe mich zwei Wochen nach dem Abbruch von meinem Freund getrennt, habe
Magersucht und leide unter Panikattacken. Ich habe Hass auf andere Mütter
und kann keine Bindung zu kleinen Kindern aufbauen. Ich wünsche mir, dass
Ruhe in mein Leben einkehrt. Ich denke: Jetzt mach wenigstens was aus
deinem Leben. Ich bin jetzt berufstätig, leider habe ich keine Ausbildung.
Irgendwann will ich auch Kinder. Aber jetzt muss ich erst einmal
vernünftig sein.
Marion D., 37 Jahre
Dieses Kind war ein absolutes Wunschkind. Trotzdem war meinem Mann und
mir von Anfang an klar: Wir bekommen es nicht, wenn es krank sein sollte.
Ich fühlte mich wunderbar während der Schwangerschaft. Ein Traum war in
Erfüllung gegangen. Nach der Fruchtwasseruntersuchung in der 18. Woche
sagte der Arzt: „Alles ist gut verlaufen. Dem Baby geht es wunderbar. Es
hat Trisomie 21.“ Dann wusste ich: Das willst du nicht haben. Ich habe gar
keine weiteren Gefühle zugelassen. Ich wollte das Kind nicht sehen, wollte
nicht dabei sein, wenn es beerdigt wird. Ich wollte nur noch, dass es
vorbei ist.
Im Krankenhaus fühlte ich mich dann wie ein Mensch zweiter Klasse. Es
war eine Qual, die gesunden Schwangeren zu sehen. Ich habe Tabletten
genommen, die Wehen auslösten, hatte starke Schmerzen und fragte mich:
Wofür das alles, ich werde nichts mit nach Hause nehmen. Als ich im
Kreißsaal lag, wollte ich stark sein für meine Mutter und meinen Mann. Ich
sagte: Ihr müsst nicht traurig sein. Dabei hätte ich mich am liebsten
umgebracht.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde ein Tampon quer in meiner
Scheide sitzen. Es war furchtbar. Ich dachte: Was ist mit der Kleinen? Ist
sie schon tot? Bringe ich sie gerade um? Als ich auf die Toilette ging, um
mich zu übergeben, rutschte sie aus mir raus. Wir waren ganz allein, die
Ärztin musste erst kommen. Ich war zunächst nur froh, dass es vorbei war,
wollte nur schlafen. Am nächsten Morgen hatte ich einen Umschlag mit dem
Fußabdruck und Fotos der Kleinen an meinem Bett. Das war für mich dann
mein Baby, den habe ich in den Arm genommen, den konnte ich mit nach Hause
nehmen. Dieser Umschlag ist mein Heiligtum.
Und dann wusste ich: Jetzt will ich sie doch sehen! Das war gut. Ich
hatte sie mir viel schlimmer vorgestellt, ich dachte, ich sehe eine
Missgeburt. Aber sie sah ganz normal aus. Sie war 21 Zentimeter groß,
hatte die Augen geschlossen, und auf den Fotos sah es aus, als würde sie
lächeln. Da hatten die Schwestern aber wohl ein bisschen nachgeholfen. In
Wirklichkeit hatte sie den Mund geöffnet und die Zunge leicht nach vorne
geschoben. Wir haben sie Anna-Lucia genannt.
Wir haben einen kleinen Sarg gekauft, ich habe sie in meinen
Lieblingsschlafanzug eingewickelt und beerdigen lassen. Sie liegt auf dem
Friedhof in Köln Mülheim, da kann ich sie jetzt immer besuchen. Jetzt kann
ihr niemand mehr wehtun.
Nicht jeder hat Verständnis. Manche sagen: Du hattest eine Wahl. Ich
frage mich: Was war das für eine Wahl? Ein behindertes Kind ist eine
wahnsinnige Aufgabe. Wer sagt, ob wir uns als Paar nicht voneinander
entfernt hätten, weil ich immer für das Kind hätte da sein müssen? Wer
hätte sie genommen, wenn uns etwas zugestoßen wäre? Welche Zukunft hätte
dieses Kind gehabt? Ich bin nicht der Typ, der überall Bitte-Bitte hätte
machen wollen.
Ich habe allen die Wahrheit gesagt, dass ich es wegmachen habe lassen.
Es ist schwer, wenn sie fragen: Wie geht es dem Baby? Und ich muss sagen:
Es gibt kein Baby mehr. Ich will mich nicht verkriechen. Ich gehe weiter
meinen Hobbys nach, ich muss essen, ich muss trinken. Ich will ein
gesundes Kind. Ich werde dafür kämpfen.
PROTOKOLLE:
CLAUDIA LEHNEN