Mit Schwung rauscht der große Mercedes-Kombi in die Tiefgarage vor der
Fäustlestraße 5 im Münchner Westend. Es ist ein heißer Sommertag in der
bayerischen Landeshauptstadt. Friedrich Stapf, 52, kommt, erhitzt, das
schulterlange Haar vom Wind zerzaust, in Hawaiihemd und Jeans von einer
Landpartie am Ammersee.
Stapf ist Deutschlands bekanntester
Abtreibungsarzt, er macht ausschließlich Schwangerschaftsabbrüche.
Mindestens 70 000 Abtreibungen hat er in seinem Leben selbst
vorgenommen, seit 20 Jahren täglich bis zu 20.
Der Mann verkörpert fast alles, was die bodenständigen Konservativen
in Bayern hassen: Der Mann ist bekennender Feminist und macht kein Hehl
aus seinem Hang zu schnellen Autos, Segeljachten, schönen Frauen und dem
guten Leben, das ihm seine stark frequentierte Praxis ermöglicht.
Im Gegensatz zu den meisten Abtreibungsärzten will Stapf vor allem
nicht verschämt im stillen wirken. Öffentlich und leidenschaftlich wirbt
er dafür, seine Tätigkeit als "hochqualifizierte medizinische
Dienstleistung" anzuerkennen.
Der Mediziner versteht es wie wenige, sich in den Medien zu bewegen.
Es bereitet ihm sichtbar Vergnügen, seine schillernde Persönlichkeit vor
großem Publikum zu entfalten.
Bei Margarethe Schreinemakers berichtete er ausführlich vom
zweifachen Überschlag in seinem Mercedes SL 500 bei 250
Stundenkilometern auf der Autobahn Stuttgart-München, nachdem er am
Steuer eingeschlafen war. Zufällig hatte die Polizei ein Video davon
gedreht. Stapf überlebte wie durch ein Wunder beinahe unverletzt. Auf
die Frage, ob er daraufhin gläubig geworden sei, antwortet der
hauptberufliche Engelmacher: "Nein, aber ich habe ja viele tausend
Schutzengel."
Provozieren ist Stapfs Leidenschaft. Aus Lust am Streit legt er sich
mit den Mächtigen im CSU-Staat an. Die katholische Kirche nennt der
überzeugte Agnostiker "die größte Terrororganisation der Geschichte",
eine "Gefährdung der Staatssicherheit", um die sich "der
Verfassungsschutz kümmern müßte". Früher habe sie die Kreuzzüge
angezettelt, nun setze sie die Menschen mit absurden Moralvorstellungen
psychisch unter Druck: "Heute sagen sie, 'du sollst nicht vögeln' -
morgen vielleicht, 'du sollst nicht Süßigkeiten essen'."
Die bayerische Regierung beschimpft er öffentlich, eine "grauslige,
extrem fundamentalistische" Einstellung zu Ausländern, Drogen und dem
Paragraphen 218 zu pflegen. Seine politische Intimfeindin,
Familienministerin Barbara Stamm, verhöhnt er durch Karikaturen in
seiner Praxis: Zwei Bilder in fotorealistischer Air-Brush-Technik zeigen
die Politikerin im Trachtenkostüm, mit dümmlichem Lächeln - der Apfel
der Verführung liegt vor ihr auf dem Tisch, in der Hand hält sie ein
rosa Kondom.
Das Freund-Feind-Denken in Bayern ist traditionell stärker ausgeprägt
als in anderen Teilen der Republik. Doch Feinde, wie Friedrich Stapf sie
hat, muß man sich auch hier verdienen.
"Da oben sitzt der Massentöter", ruft der CSU-Landtagsabgeordnete
Thomas Zimmermann, im Zivilberuf Chirurg, bei einer Debatte im
bayerischen Parlament und zeigt mit ausgestrecktem Finger zur
Zuschauertribüne auf den Abtreibungsarzt.
"Sie sind eine Bestie in Menschengestalt", schrieb ihm ein Anonymus.
So "kaltblütig", wie er morde, werde auch er ermordet, wenn die
Abtreibungen nicht sofort gestoppt würden, drohte er.
Der in CSU-Kreisen hoch angesehene Professor für Frauenheilkunde,
Ingolf Schmid-Tannwald, ein radikaler Abtreibungsgegner, will Stapf am
liebsten aus der Ärztekammer ausschließen lassen. Einer wie er sei kaum
besser als die Mediziner im Dritten Reich, die am sogenannten
Euthanasieprogramm mitwirkten.
Der "Killer" Stapf töte in seinem "Embryonalmordinstitut" massenhaft
"Menschen auf Bestellung", assistiert der Ulmer Mediziner und
Lebensschützer Siegfried Ernst.
All das ficht Stapf jedoch nicht an. Er ist Überzeugungstäter:
"Abtreibungsarzt war immer mein Traumberuf."
Sein Schlüsselerlebnis hatte er 1968. Damals begleitete der
Medizinstudent seine 23 Jahre alte schwangere Freundin zur illegalen
Abtreibung. Der Eingriff wurde ohne Betäubungsmittel durchgeführt. Stapf
fiel beim Anblick der großen Blutmenge, die auf den Boden rann, in
Ohnmacht. Doch er war "fasziniert von diesem Handwerk".
In der Frauenklinik Wiesbaden sah der Famulus bald darauf wöchentlich
Dutzende verpfuschter Abtreibungen, die offiziell als Fehlgeburten
deklariert wurden. Seither rebelliert er gegen die Strafverfolgung bei
Schwangerschaftsabbrüchen.
Daß er durch Abtreibungen "Leben töte", wolle er gar nicht
beschönigen, sagt Stapf. Er sei aber überzeugt, daß durch Zwang und
einen Mangel an medizinischer Versorgung kein Abbruch verhindert werde.
Der alerte Mediziner versteht sich nicht nur als Arzt, er macht
Politik. Er beriet die ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete Uta Würfel,
die 1992 maßgeblich an der Neufassung des Paragraphen 218 beteiligt war.
Die SPD-Politikerin Renate Schmidt ließ er einen Tag im weißen Kittel in
seiner Praxis hospitieren. Im Bundestagssonderausschuß zum "Schutz des
ungeborenen Lebens" trat er als Sachverständiger auf. Dort beeindruckte
und schockierte er die Parteienvertreter gleichermaßen mit seiner
profunden Kenntnis des Abtreibungsgewerbes.
Derzeit klagt Stapf zusammen mit vier weiteren Medizinern vor dem
Bundesverfassungsgericht gegen das bayerische Sondergesetz, das den
bundesweiten Abtreibungskompromiß von 1995 verschärft. Mit dem
"Schwangerenhilfeergänzungsgesetz" will die Münchner Staatsregierung
hauptberufliche Abtreiber wie Stapf wirtschaftlich aushungern. Es
verbietet, mehr als 25 Prozent der Praxiseinnahmen durch Abbrüche zu
erzielen. Außerdem sollen nur noch Gynäkologen den Eingriff vornehmen
dürfen - Stapf ist lediglich Allgemeinmediziner.
Bayern möchte abtreibungswilligen Frauen eine "gewisse Hürde" (Stamm)
in den Weg stellen - der Schwangerschaftsabbruch soll nicht zu leicht zu
haben sein. Nur etwa hundert Ärzte haben bislang den nach dem
bayerischen Sondergesetz erforderlichen Antrag auf Abtreibungserlaubnis
gestellt, nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen möchte, daß ihr Name
in Beratungsstellen genannt wird.
Stapf offeriert exakt das, was Bayern zu verhindern sucht: An
zentralem Ort, für jede Frau leicht erreichbar, bietet er den ambulanten
Schwangerschaftsabbruch als erschwingliche Dienstleistung an - für 490
Mark, in unkomplizierter Atmosphäre, mit besonders geschultem,
freundlichem Personal.
Schuldgefühle, auf die in Bayern besonders großer Wert gelegt wird,
werden in seiner Praxis nicht geschürt: Im Ruheraum hat Arzthelferin
Verena zur Erheiterung der wartenden Frauen das Radio lauter gedreht.
Aus dem Lautsprecher dringt der aktuelle Hit der Band Die Ärzte: "Männer
sind Schweine ... sie wollen alle nur das eine."
Daß Stapf ein exzellenter Handwerker ist, der seine Patientinnen
umsichtig und professionell behandelt, bezweifeln nicht mal seine
Gegner. Doch macht er sich durch seine Biographie auch angreifbar.
Medizin studierte Stapf zunächst nur, um vom Wehrdienst
zurückgestellt zu werden. Er hat nie promoviert, die Facharztausbildung
zum Gynäkologen in Wiesbaden brach er nach zwei Jahren ab. "Wer einen
Namen hat, braucht keinen Titel", spottet er.
Fünf Jahre arbeitete er als Notarzt, 1980 eröffnete er mit einem
Kollegen in Wiesbaden seine erste - gutgehende - Abtreibungspraxis. Zwei
Jahre später landete er für ein paar Wochen im Gefängnis - wegen des
Konsums von Kokain. Ein Drogendealer hatte ihn verpfiffen.
Als er herauskam, hatte die Bank sämtliche Kredite gekündigt. Stapf
saß auf zwei Millionen Mark Schulden, die zum Teil durch den Verkauf der
Praxis getilgt wurden. Den Rest stotterte der ruinierte Mediziner in
Raten ab.
Vier Jahre lebte er als Hausmann und Vater in Wiesbaden, nach
weiteren fünf Jahren hatte er sich durch die Mitarbeit in einer
gynäkologischen Praxis im hessischen Langen finanziell saniert.
1991 eröffnete er mit Unterstützung des damaligen Stuttgarter
Gesundheitsreferenten und Ersten Bürgermeisters Rolf Thieringer (CDU)
eine private Abtreibungsambulanz in den Räumen der städtischen
Frauenklinik Berg. Thieringer begründete sein Votum für Stapf: "Ihre
Kokaingeschichte sehe ich als Jugendsünde an, Stuttgart ist schließlich
auch in der Drogenrehabilitation engagiert. Sie haben den Vertrag."
Ins katholisch-schwarze Bayern schaffte es der gebürtige Münchner
schließlich zwei Jahre später - gegen alle Widerstände.
Politiker und Kollegen wie Gynäkologe Schmid-Tannwald hetzten gegen
den "Fließbandabtreiber". Die Staatsregierung kündigte an, sie werde
"mit allen Mitteln den Intentionen des Herrn Stapf in Bayern aufs
heftigste entgegentreten". Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden ermittelte
gegen ihn wegen Mordverdachts: Der Arzt sollte in den siebziger Jahren
vier unheilbar an Krebs erkrankten Frauen die Todesspritze gegeben
haben.
Das Verfahren wurde nach zwei Jahren eingestellt, und Stapf erhielt
seine Zulassung in der letzten, eigens dafür einberufenen Sitzung des
Zulassungsausschusses vor dem von Bundesgesundheitsminister Horst
Seehofer (CSU) verfügten Niederlassungsstopp. Dem Zulassungsausschuß
gehörten damals auch der Münchner AOK-Geschäftsführer Johann Fahn, der
Vorsitzende der Münchner Kassenärztlichen Vereinigung Guido Hofmann und
der Vorsitzende der Vereinigung der Bayerischen Internisten Hartmut
Stöckle an.
In wenigen Wochen soll das Bundesverfassungsgericht darüber
entscheiden, ob Stapf - wie von der bayerischen Regierung gewünscht -
seine Praxis wieder zusperren muß. Bleibt er, kann die CSU, die sich
pflichtgemäß entrüstet hat, bestimmt auch damit leben. "Die Wahrheit ist
doch", gesteht Stapf-Gegner Schmid-Tannwald, "wir brauchen einen wie
ihn."
Susanne Koelbl