BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
Pressemitteilung
Nr. 43/2010 vom 29. Juni 2010
Beschluss vom 8. Juni 2010
1 BvR
1745/06
Bundesverfassungsgericht hebt
gerichtliche Untersagung einer
Protestaktion gegen
Schwangerschaftsabbrüche auf
Der Beschwerdeführer hält
aus religiöser Überzeugung Abtreibungen für verwerflich. Er pflegt
Protestaktionen gegen Frauenärzte zu veranstalten, die
Schwangerschafts-abbrüche vornehmen, indem er sich in der Nähe der
jeweiligen Arztpraxis auf der Straße aufstellt, um durch Plakateund
Flugblätter auf seine Haltung zur Abtreibungsfrage aufmerksam zu
machen. Hierbei spricht er auch Passanten und Passantinnen,
insbesondere solche, die er für mögliche Patientinnen des Frauenarztes
hält, an und versucht sie zu einer Überprüfung ihrer Haltung zur Frage
der Abtreibung zu bewegen. Mehrere dieser Aktionen waren bereits
Gegenstand von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (vgl. nur
BVerfGK 8, 89).
Im vorliegenden Fall
hatte sich der Beschwerdeführer an zwei Tagen vor der Praxis eines
Münchener Frauenarztes aufgestellt, der nach den Feststellungen der
Gerichte seinerzeit im Rahmenseiner Berufsausübung
Schwangerschaftsabbrüche vornahm und hierauf auch im Internet hinwies.
Dabei verteilte der Beschwerdeführer Flugblätter, auf denen angegeben
war, der Arzt führe„rechtswidrige Abtreibungen durch, die aber der
deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unterStrafe stellt“. Auch im
Internet machte der Beschwerdeführer auf einer von ihm betriebenen
Homepage den Arzt als Abtreibungsmediziner namhaft. Dieser nahm den
Beschwerdeführer daraufhin zivilrechtlich auf Unterlassung in
Anspruch.
Das Landgericht München I
gab der Klage statt und verurteilte den Beschwerdeführer, es zu
unterlassen, öffentlich darauf hinzuweisen, dass der namentlich oder
in anderer Weise identifizierbar bezeichnete Kläger Abtreibungen
vornehme oder dass in seiner Praxis Abtreibungen vorgenommen würden,
und des Weiteren es zu unterlassen, Patientinnen des Klägers oder
Passanten in einem Umkreis von einem Kilometer zu dessen jeweiligen
Praxisräumen anzusprechen und wörtlich oder
sinngemäß auf in der Praxis vorgenommene Abtreibungen hinzuweisen. Mit
seinen Demonstrationen habe der Beschwerdeführer rechtswidrig in das
allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers eingegriffen mit der
Folge, dass diesem der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus §§
823 Abs. 1, 1004 BGB zustehe. Das Oberlandesgericht München wies die
hiergegen gerichtete Berufung des Beschwerdeführers zurück.
Die 1. Kammer des Ersten
Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde zur
Entscheidung angenommen und die Entscheidungen der Zivilgerichte
aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen.
Der Entscheidung liegen
im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die dem Beschwerdeführer
untersagten Äußerungen sind wahre Tatsachenbehauptungen, die den
Kläger weder in seiner besonders geschützten Intim- noch in seiner
Privatsphäre treffen, sondern lediglich Vorgänge aus seiner
Sozialsphäre benennen. Derartige Äußerungen müssen grundsätzlich
hingenommen werden und überschreiten regelmäßig erst dann die Schwelle
zur Persönlichkeitsrechtsverletzung, wenn sie einen
Persönlichkeitsschaden befürchten lassen, der außer Verhältnis zu dem
Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht. Eine derart
schwerwiegende Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
des Klägers zeigen die angegriffenen Entscheidungen aber nicht in
verfassungsrechtlich tragfähiger Weise auf. Namentlich lassen sie
nicht erkennen, dass dem Kläger ein umfassender Verlust an sozialer
Achtung drohe, wenn seine Bereitschaft zur Vornahme von
Schwangerschaftsabbrüchen zum Gegenstand einer öffentlichen Erörterung
gemacht wird. Hiergegen spricht, dass ihm nicht etwa eine
strafrechtlich relevante oder auch nur überhaupt gesetzlich verbotene,
sondern lediglich eine aus Sicht des Beschwerdeführers moralisch
verwerfliche Tätigkeit vorgehalten wurde, auf die zudem der Kläger
selbst ebenfalls öffentlich hinwies.
Darüber hinaus haben die
Gerichte auch nicht hinreichend gewürdigt, dass der Beschwerdeführer
mit dem Thema der Schwangerschaftsabbrüche einen Gegenstand von
wesentlichem öffentlichem Interesse angesprochen hat, was das Gewicht
seines in die Abwägung einzustellenden Äußerungsinteresses vergrößert.
Soweit die Gerichte
ergänzend auf die Auswirkungen verwiesen haben, die die
streitgegenständlichen Äußerungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis
entfalten, können diese Erwägungen die angegriffenen Entscheidungen im
vorliegenden Fall verfassungsrechtlich gleichfalls nicht tragen.
Allerdings ist die Erwägung, dass die Patientinnen, deren Weg in die
Arztpraxis am Standort des Beschwerdeführers vorbeiführt, sich durch
dessen Aktionen gleichsam einem Spießrutenlauf ausgesetzt sehen
könnten, ein gewichtiger Gesichtspunkt. Vor dem Hintergrund, dass Art.
5 Abs. 1 GG zwar das Äußern von Meinungen schützt, nicht aber
Tätigkeiten, mit denen anderen eine Meinung - mit nötigenden Mitteln -
aufgedrängt werden soll, ist es nicht ausgeschlossen, auf diesen
Gesichtspunkt und die damit verbundene Einmischung in die rechtlich
besonders geschützte Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patientin
im Einzelfall ein verfassungsrechtlich tragfähiges Verbot von
bestimmten Formen von Protestaktionen zu stützen. Dies rechtfertigt
aber jedenfalls nicht ein so umfassendes Verbot, wie es hier in Frage
steht.
Auf mögliche, das
Grundrecht des Klägers aus Art. 12 Abs. 1 GG betreffende Belästigungen
von Patientinnen lässt sich weder die Untersagung stützen, in einem
Umkreis von einem Kilometer Luftlinie von der Praxisdes Klägers - ohne
Rücksicht darauf, ob es sich um einen Standort handelt, den
Patientinnen des Klägers auf dem Weg zur Praxis passieren müssen oder
nicht - auf die dort durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche
hinzuweisen noch gar dies in sonstiger Weise öffentlich zu tun.
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