Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheidet zugunsten
der freien Meinungsäußerung eines Abtreibungsgegners
Pressemitteilung
Straßburg, den 26. November 2015
Das Europäische Zentrum für Recht und Gerechtigkeit begrüßt
sehr eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte, welche die freie Meinungsäußerung eines
Abtreibungsgegners in dem Fall Annen gegen Deutschland wahrt (Nr.
3690/10; 26. November 2015).
Der Fall betrifft das Verbot der Verteilung von Flugblättern gegen die
Abtreibung in der Nähe einer Klinik, die Abtreibungen vornahm, sowie
der Auflistung auf einer Internetseite der Namen der die Klinik
betreibenden Ärzte. Der EGMR entschied, dass ein solches Verbot, das
Recht des Abtreibungsgegners auf freie Meinungsäußerung verletzte.
Das Europäische Zentrum für Recht und Gerechtigkeit trat in dem
Verfahren als Drittpartei auf und reichte schriftliche Betrachtungen
zugunsten des Rechts auf freie Meinungsäußerung ein.
Dieses Urteil wird besonders begrüßt, da der EGMR in seiner
Rechtsprechung nicht immer sehr unterstützend für das Recht auf freie
Meinungsäußerung von Abtreibungsgegnern urteilte, insbesondere bei
Vergleichen mit Fällen, die Tätigkeiten und Diskurse gegen die
Abtreibung betrafen.
Im Juli 2005 verteilte Herr Annen im Rahmen einer
Antiabtreibungskampagne Flugblätter in der unmittelbaren Nachbarschaft
einer Tagesklinik, wo Abtreibungen vorgenommen wurden. Auf den
Flugblättern wurde in Fettschrift behauptet, dass die beiden die
Klinik betreibenden Ärzte, deren vollständige Namen und Adresse
angegeben waren, „rechtswidrige Abtreibungen“ durchführten. Diese
Aussage war gefolgt von einer Erklärung in kleineren Buchstaben,
wonach die Abtreibungen von dem deutschen Gesetzgeber erlaubt seien,
aber nicht der strafrechtlichen Verfolgung unterliegen. Weiter stand
zu lesen: „Der Beratungsschein schützt „Arzt“ und Mutter vor
Strafverfolgung, aber nicht vor der Verantwortung vor Gott.“
Die Rückseite der
Flugblätter enthielt den folgenden Satz: „Die Ermordung der
Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch verkommene
NS-Staat hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht
unter Strafe gestellt.“ Unterhalb dieses Satzes verwies das
Flugblatt auf die Webseite „www.baycaust.de“. Diese Webseite, die von
Herrn Annen betrieben wurde, enthielt eine Adressenliste von
„Abtreibungsärzten“, darunter die beiden die Tagesklinik betreibenden
Ärzte.
Im Januar 2007 wies ein
Landgericht Herrn Annen an, die Verteilung von Flugblättern, die die
Namen der Ärzte und die Behauptung enthielten, es würden dort
rechtswidrige Abtreibungen vorgenommen, einzustellen. Das Gericht
ordnete außerdem an, dass Herr Annen es unterlassen müsse, auf einer
von ihm betriebenen Internetseite, die Namen und Adressen der beiden
Mediziner in einer Liste von „Abtreibungsärzten“ zu nennen.
In seiner Entscheidung
befand der Gerichtshof, dass die deutschen Gerichte keine gerechte
Abwägung zwischen Herrn Annens Recht auf freie Meinungsäußerung und
den Persönlichkeitsrechten der Ärzte getroffen haben.
Grundsätzlich
unterstrich das Gericht, dass „es keinen Zweifel an der
Sensibilität der moralischen und ethischen Fragen geben kann, die von
dem Thema Abtreibung aufgeworfen werden oder an der Bedeutung des
öffentlichen Interesses.“ Daher müsse die freie Meinungsäußerung
zur Abtreibung vollen Schutz genießen.
Das Gericht führte
unter anderem aus, dass in den Flugblättern klargestellt wurde,
dass die in der Klinik durchgeführten Abtreibungen nicht der
Strafverfolgung unterliegen. Daher war die Aussage, dass
„rechtswidrige Abtreibungen“ durchgeführt worden waren, vom
rechtlichen Standpunkt korrekt.
Hinsichtlich des
Verweises auf den Holocaust führte das Gericht aus, dass „der
Antragsteller nicht – zumindest nicht explizit – die Abtreibung mit
dem Holocaust gleichstellte, jedoch das dieser Verweis als ein Mittel
zu verstehen ist, ein Bewusstsein für die mehr allgemeinere Tatsache
zu schaffen, dass Recht von Moral abweichen kann (§ 63), wie der
EGMR bei seinem Ausführungen unterstrich.
Hinsichtlich der
Verfügung, die Auflistung der Namen der die Klinik betreibenden Ärzte
auf der Internetseite zu unterlassen, führte der Gerichtshof aus, dass
die deutschen Gerichte es versäumt haben, bestimmte Elemente im
Zusammenhang mit der Internetseite zu prüfen und Normen anzuwenden,
die im Einklang mit den in Artikel 10 der Konvention verkörperten
Verfahrensgrundsätzen stehen.
Das Gericht befand, dass
Deutschland Herrn Annen 13.696,87 Euro für Kosten und Ausgaben zu
zahlen habe.
Die Richter Yudkivska
und Jäderblom äußerten gemeinsam eine abweichende Meinung.
Das Urteil der Kammer
ist nicht rechtskräftig. In den nach seiner Ausfertigung folgenden
drei Monaten kann jede Partei den Antrag stellen, dass der Fall an die
Große Kammer des Gerichtshofs verwiesen wird.
European Centre for Law and Justice
4, Quai Koch
67000 Straßburg
November 30, 2015
The European Centre for Law and Justice warmly welcomes a
decision of the European Court of Human Rights upholding the freedom
of speech of a pro-life activist in the case of
Annen v. Germany (no. 3690/10; Nov. 26, 2015).
This case concerns the prohibition of distributing anti-abortion
leaflets near a clinic which performed abortions, and of listing on a
website the names of the doctors running the clinic. The ECHR ruled
that such prohibition violated the pro-life activist’s right to
freedom of expression
The European Centre for Law and Justice intervened in the
proceedings as third party and submitted written observations in
support of freedom of speech.
This decision is particularly welcomed because the ECHR in its
case-law has not always been very supportive of pro-life freedom of
speech, especially when compared to cases concerning pro-abortion
activism and discourses.
In July 2005, as part of a pro-life campaign, Mr Annen distributed
leaflets in the immediate vicinity of a day clinic which performed
abortions. The leaflets alleged, in bold letters, that the two doctors
running the clinic, whose full names and address were mentioned,
performed "unlawful abortions”. This statement was followed by an
explanation in smaller letters stating that the abortions were allowed
by the German legislator and were not subject to criminal liability.
It continued: “The attestation of counselling protects the
‘doctor’ and the mother from criminal prosecution, but not from their
responsibility before God.”
The back of the leaflets included the following sentence: “The
murder of human beings in Auschwitz was unlawful, but the morally
degraded NS State allowed the murder of innocent people and did not
make it subject to criminal liability.” That sentence was
followed by a reference to a website run by Mr Annen, www.babycaust.de,
which included a list of “abortion doctors”, among them the two
doctors running the day clinic.
In January 2007 a regional court ordered Mr Annen to stop
distributing, in the immediate vicinity of the clinic, leaflets
containing the names of the doctors and the assertion that unlawful
abortions were performed there. The court also ordered Mr Annen to
stop mentioning the two doctors’ names and addresses in the list of
“abortion doctors” on the website run by him.
In its decision, the European Court of Human Rights found that the
German courts had failed to strike a fair balance between Mr Annen’s
right to freedom of expression and the doctor’s personality rights.
As a matter of principle, the Court underlined that “there can
be no doubt as to the acute sensitivity of the moral and ethical
issues raised by the question of abortion or as to the importance of
the public interest at stake.” Therefore, freedom of expression
in regard to abortion shall enjoy a full protection.
The Court noticed, inter alia, that in the leaflets it was
made clear that the abortions performed in the clinic were not subject
to criminal liability. Therefore, the statement that “unlawful
abortions” were being performed in the clinic was correct from a legal
point of view.
Regarding the reference to the Holocaust, the Court considered that
“the applicant did not – at least not explicitly – equate abortion
with the Holocaust” but that this reference had to be understood
as “a way of creating awareness of the more general fact that law
might diverge from morality” (§ 63), as underlined by the ECLJ in
its submission to the Court.
As regards the order for Mr Annen to stop listing on his website
the names of the doctors running the clinic, the Court noted that the
German Courts failed to examine any specific elements of the website
and to apply standards which were in conformity with the procedural
requirements of Article 10.
The Court held that Germany was to pay Mr Annen 13,696.87 euros in
respect of costs and expenses.
Judges Yudkivska and Jäderblom expressed a joint dissenting opinion.
This Chamber judgment is not final. During the three-month period
following its delivery, any party may request that the case be
referred to the Grand Chamber of the Court.
- See more at: http://www.eclj.org/Releases/Read.aspx?GUID=2a5f613b-64ae-45fe-b0dd-e9f17da2c9ec#sthash.Onk9X4Jn.dpuf
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