Wo
eine Gesell-schaft sich dazu verführen läßt, be-stimmte Personen als nicht
voll menschlich und daher minderwertig und ohne Anspruch auf Achtung zu
be-trachten, dort sind die kulturellen Vor-aussetzungen für einen
menschlichen Holocaust gegeben.
Ronald Reagan
"Recht zum Leben" S.24/25 |
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Haben denn die heutigen Ärzte noch
moralische Skrupel?
Über 300.000 ermordete
ungeborene Kinder jedes Jahr, alleine in Deutschland.
Damals gab es kein Gesetz,
was die Ermordung von behinderten Menschen
nach dem Gesetz
"rechtmäßig machte"!
Heute können ungeborene
Kinder sogar
nach der 12.
Schwangerschaftswoche bis kurz vor die Geburt
rechtmäßig, dem Gesetze
nach, ermordet werden! |
Worin unterscheiden sich die Schergen von damals
zu den Schergen von heute? |
NS-„Kindereuthanasie“: „Ohne jede
moralische Skrupel“
Zwischen 1939 und 1945 wurden im Deutschen Reich
nicht nur mehr als 100 000 erwachsene Geisteskranke und Behinderte,
sondern auch mehrere Tausend behinderte Kinder ermordet.
Schon vor der NS-Zeit gab es in Deutschland Stimmen, die die Tötung
von behinderten Kindern forderten (1). Nur zwei Beispiele: 1895
formulierte der Rassenhygieniker Alfred Ploetz in einer Art „Utopie“:
„Stellt es sich (trotz bester Pflege für Mutter und Kind) heraus, dass
das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist, so
wird ihm von dem Aerzte-Kollegium, das über den Bürgerbrief der
Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet.“ 1920 schrieb der
Jurist Prof. Dr. Karl Binding in der berühmt-berüchtigten Schrift „Die
Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“: „Die Frage, ob es
nicht Missgeburten gibt, denen man in ganz früher Lebenszeit den
gleichen Liebesdienst erweisen sollte, will ich nur angeregt haben.“
Doch es bleibt festzuhalten, dass diese und andere Stimmen
Einzelstimmen waren, dass hier „Utopien“ vorgetragen, „Anregungen“
gegeben wurden. Eine Verwirklichung war nicht in Sicht. § 211 des
Reichsstrafgesetzbuches bedrohte Mord mit hoher Strafe.
Das Kind K.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden nahezu sofort
rassenhygienisch-eugenische Maßnahmen ergriffen. Für die Medizin
bedeutsam wurde vor allem das Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses vom 14. Juli 1933, das die Zwangssterilisation einführte.
Ein Änderungsgesetz dazu erlaubte seit 1935 sogar den
Schwangerschaftsabbruch aus eugenischer Indikation vor Ablauf des
sechsten Monats. Doch in Bezug auf angeblich minderwertiges „geborenes
Leben“ schien man im NS-Staat am Tötungsverbot festhalten zu wollen.
1935 veröffentlichte die maßgebliche amtliche Strafrechtskommission,
der unter anderem Reichsjustizminister Franz Gürtner und
Staatssekretär Roland Freisler angehörten, in einem Berichtsband als
Ergebnis ihrer Beratungen, dass eine staatlich angeordnete
„Vernichtung lebensunwerten Lebens“ nicht infrage komme.
Dies hinderte einflussreiche Nationalsozialisten aber nicht daran,
über die Zwangs-„Euthanasie“ nachzudenken. In der grundlegenden
Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt gegen Werner
Heyde und andere aus dem Jahr 1962 (Az.: 17 Js/59; im Folgenden
zitiert als Heyde-Anklage) ist vermerkt, dass Reichsärzteführer Dr.
Gerhard Wagner 1935/36 von Hitler die
Freigabe erreichen wollte. Wenn man der Aussage eines Arztes aus dem
Jahr 1961 trauen kann, regte er dabei nicht nur die Erwachsenen-,
sondern auch die Kinder-„Euthanasie“ an (Heyde-Anklage
S. 41 f.). Doch Hitler lehnte dieses
Ansinnen ab, wobei er nach einer
Aussage seines Begleitarztes Karl Brandt andeutete, dass er im Falle
eines Krieges „diese Euthanasiefrage aufgreifen und durchführen
werde“. Spätestens seit 1938 war es im Umfeld Hitlers klar, dass er
mit seinem außenpolitischen Vabanquespiel auf einen Krieg zusteuerte.
Die von Brandt erwähnte Bedingung der Durchführung der „Euthanasie“
rückte also heran.
Aller Wahrscheinlichkeit nach gab ein bestimmter Fall den Anstoß zur
konkreten Planung des „Kindereuthanasieprogramms“ (2). Angaben des
französischen Journalisten Ph. Aziz folgend, führten eigene Recherchen
zu dem Ergebnis, dass das behinderte Kind K. am 20. Februar 1939 in
Pomßen bei Leipzig geboren wurde. Man kann erschließen, dass der Vater
etwa im April oder Mai 1939 einen Brief an die Kanzlei des Führers
schrieb und Hitler um den „Gnadentod“ des Kindes ersuchte. Karl Brandt
war (wohl im Juli) in Pomßen, um mit den Eltern zu sprechen. Das Kind
wurde „wenige Tage“ später (laut Kirchenbuch am 25. Juli 1939) in der
Universitätskinderklinik von Prof. Werner Catel in Leipzig
„eingeschläfert“. Im Zuge dieses Falles gab Hitler nach Aussagen von
Beteiligten die „Euthanasie“ frei.
Die Planung
Die Kanzlei des Führers spielte bei der folgenden konkreten Planung
der „Kindereuthanasie“ (wie auch bei der „Erwachseneneuthanasie“, auf
die hier nicht eingegangen werden kann) eine zentrale Rolle. Diese
Kanzlei, eine 1934 eingerichtete Privatkanzlei Hitlers, wurde von
Reichsleiter Philipp Bouhler geleitet. Dem Hauptamt 2, das für
Eingaben und Gesuche an Hitler zuständig war, stand der
Wirtschaftswissenschaftler Viktor Brack vor. Leitender Sachbearbeiter
im Amt 2 b, das speziell Gnadengesuche bearbeitete, war Dr. agrar.
Hans Hefelmann, sein Stellvertreter war der Sachbearbeiter Richard von
Hegener. Laut Hefelmann führte der dargestellte Fall dazu, dass
„Hitler Brandt und Bouhler ermächtigte, in Fällen ähnlicher Art analog
dem Falle Kind Knauer zu verfahren“ (Heyde-Anklage S. 53). Hefelmann
sagte weiter aus (und an der Richtigkeit dieser ihn belastenden
Aussage ist nicht zu zweifeln), dass er nach dem Fall „Kind K.“ von
Brandt den Auftrag erhielt, ein „beratendes Gremium“ für die
„Kindereuthanasie“ zusammenzustellen, was er offenkundig ohne jede
moralische Skrupel tat (Heyde-Anklage S. 56a). Ihm gehörte auf jeden
Fall Ministerialrat Dr. med. Herbert Linden vom Reichsinnenministerium
an. Dass in diesem frühen Stadium niemand vom Reichsministerium der
Justiz hinzugezogen wurde, zeigt, dass man zu diesem Zeitpunkt an eine
„außergesetzliche Lösung“ dachte. Es ist nicht klar, wann genau zu dem
engeren Kreis der Planer um Hefelmann, Brack und Linden (Brandt wurde
sicher auf dem Laufenden gehalten) ärztliche Experten hinzukamen. Die
Tatsache, dass in den gleich zu besprechenden Erlass des
Innenministeriums vom 18. August 1939 offenkundig pädiatrischer
Sachverstand eingegangen war (es werden zum Beispiel Mikrozephalie und
Littlesche Erkrankung erwähnt), spricht für die Beteiligung von Ärzten
vor diesem Zeitpunkt. Zu den Medizinern zählten laut Hefelmann der
Pädiater Dr. Ernst Wentzler (Berlin), der als Kinder- und
Jugendpsychiater hervorgetretene Dr. Hans Heinze (Brandenburg-Görden)
und – als „Euthanasie“-Theoretiker – der Pressereferent im
Rassenpolitischen Amt Dr. Hellmuth Unger (Augenarzt), dessen Roman
„Sendung und Gewissen“ (1936) später als Vorlage für den „Euthanasie“-Propagandaspielfilm
„Ich klage an“ (1941) diente. Es ist nicht geklärt, ob auch der
Pädiater Prof. Werner Catel (Leipzig) Mitglied der Planungsgruppe im
engeren Sinne war. Die übliche Darstellung in der Literatur, wonach
das vorbereitende Gremium von Februar bis Mai 1939 getagt habe (so
schon die Heyde-Anklage S. 59), ist durch keine nachprüfbaren Fakten
gedeckt. Der entsprechenden Aussage Hefelmanns aus dem Jahr 1960 ist
in diesem Fall nicht zu trauen. Es ist anzunehmen, dass er,
fehlgeleitet durch seine falsche zeitliche Einordnung des Falles „Kind
K.“ (in einer Aussage vom 31. August 1960 datierte er den Fall auf das
Jahr 1938, in einer anderen vom November 1960 auf die ersten beiden
Monate des Jahres 1939), die Expertenberatungen im Rückblick zu früh
„ansetzte“.
Die Planer beschlossen, als Träger des „Kindereuthanasie“-Programms
nicht die Kanzlei des Führers anzugeben, sondern eine Tarnorganisation
mit dem verschleiernden Namen „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen
Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ einzurichten.
Es stimmt übrigens nicht, was seit einer Studie von K. H. Roth und G.
Aly aus dem Jahr 1984 oft kolportiert wurde, dass nämlich dieser
„Reichsausschuss“ direkt aus einem geheimen „Reichsausschuss für
Erbgesundheitsfragen“ hervorgegangen ist, der nach 1936/37 als „über
der ,Erbgesundheits‘-Justiz thronendes Entscheidungsgremium mit
unumschränkter Entscheidungs- und Schlichtungskompetenz“ gegründet
worden sei (3). Dieser zuletzt genannte „Reichsausschuss“ war 1938 im
Zuge der Diskussion um eine Änderung des Gesetzes zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses zwar projektiert worden, doch er wurde nie
eingerichtet.
Das Verfahren
Die relativ kleine Planungsgruppe arbeitete zügig und effektiv. Denn
schon am 18. August 1939 erging ein streng vertraulicher Runderlass
des Innenministeriums an die „außerpreußischen Landesregierungen usw.“
(Heyde-Anklage S. 62–65). Einleitend hieß es, dass zur „Klärung
wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiete der angeborenen Missbildung
und der geistigen Unterentwicklung“ eine „möglichst frühzeitige
Erfassung der einschlägigen Fälle“ notwendig sei. Der Minister ordnete
an, dass Hebammen, Ärzte in Entbindungsanstalten und geburtshilflichen
Abteilungen von Krankenhäusern sowie Allgemeinärzte Kinder an das
zuständige Gesundheitsamt melden sollten, die mit folgenden „schweren
angeborenen (!) Leiden“ behaftet seien: „1) Idiotie sowie Mongolismus
(besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind), 2)
Mikrocephalie, 3) Hydrocephalus schweren beziehungsweise
fortschreitenden Grades, 4) Missbildungen jeder Art, besonders Fehlen
von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule
und so weiter, 5) Lähmungen einschließlich Littlescher Erkrankung“.
Gemeldet werden sollten Kinder bis zum dritten Lebensjahr (die
Altersgrenze wurde später informell erhöht).
Eine Abschrift des Erlasses sollte von den Landesregierungen an die
Amtsärzte gehen. Diese sollten die Hebammen und Ärzte ihres Bezirks
instruieren und ihnen einen auszugsweisen Abdruck des Erlasses sowie
Meldebogen übergeben. In den Meldebogen (Heyde-Anklage S. 66 f.) wurde
unter anderem nach dem „Anlass zur Meldung“, nach der
„voraussichtlichen Lebensdauer“ und nach „Besserungsaussichten“
gefragt (der Meldebogen wurde per Erlass des Innenministeriums vom 7.
Juni 1940 im Sinne der Spezifikation geändert; vgl. Heyde-Anklage S.
69–72). Der Amtsarzt oder ein Vertreter sollte sich von der
Richtigkeit der Meldung überzeugen (was de facto wohl nur selten
geschah). Die Unterlagen (Meldung und Befundbericht) sollten dann an
den hier erstmals öffentlich genannten „Reichsausschuss“
(Postfach-Adresse Berlin) geschickt werden. Das weitere Schicksal der
Kinder wurde nicht erwähnt. Erst in einem Erlass des Innenministeriums
vom 1. Juli 1940 hieß es, dass in Görden eine „Jugend-Psychiatrische
Fachabteilung“ zur „Behandlung“ der gemeldeten Kinder eingerichtet
worden sei und dass die Errichtung weiterer „Fachabteilungen“ zur
besseren „Behandlung“ der Kinder beabsichtigt sei (Heyde-Anklage S.
117).
Die Meldungen der Amtsärzte wurden in der Abteilung 2 b der Kanzlei
des Führers von Hefelmann beziehungsweise von Hegener gemustert, und
es wurden die Fälle aussortiert, die nach ihrer Ansicht nicht für die
„Euthanasie“ infrage kamen. Der Rest – von circa 100 000 eingegangenen
Meldebogen bis 1945 wohl circa 20 000 – ging an die drei „Gutachter“
des „Reichsausschusses“ (die schon erwähnten Dr. Heinze, Dr. Wentzler
und Prof. Catel). Die Meldebogen wurden von den Gutachtern im
Umlaufverfahren beurteilt. Nach Aussage von Hefelmann füllten die
Gutachter einen Bogen aus, der drei Rubriken enthielt: Ein „+“
bedeutete „Behandlung, das heißt Freigabe der Tötung“; ein „–“
bedeutete Ablehnung der Freigabe.
Die so genannten „Kinderfachabteilungen“
Kam der Gutachter zu dem Ergebnis, dass zurzeit keine sichere
Entscheidung möglich sei, „lautete das Votum in der Regel auf
,vorläufige Zurückstellung‘ oder ,Beobachtung‘“ (Heyde-Anklage S. 91
f.). Sowohl die „+“-Fälle als auch die „Beobachtungsfälle“ sollten in
ei-
ne so genannte „Kinderfachabteilung“ aufgenommen werden.
Die Aufnahme wurde durch ein Schreiben des „Reichsausschusses“ an das
zuständige Gesundheitsamt eingeleitet. Gleichzeitig erhielt die
vorgesehene (meist nächstgelegene) Anstalt, in der es eine
„Fachabteilung“ gab, eine Benachrichtigung. In dem Schreiben an die
Amtsärzte hieß es nur, dass „nach eingehender fachärztlicher
Überprüfung des Falles“ das Kind zur Aufnahme in die benannte
„Fachabteilung“ bestimmt worden sei. Hier könne „auf Grund der durch
den Reichsausschuss getroffenen Einrichtungen die beste Pflege und im
Rahmen des Möglichen neuzeitliche Therapie durchgeführt werden“ (Heyde-Anklage
S. 98 f.). Wenn Prof. J. Ibrahim ein Kind aus der Jenaer
Universitätskinderklinik in die „Kinderfachabteilung“ Stadtroda mit
dem Hinweis „Euth. wäre durchaus zu rechtfertigen“ überwies, muss er
natürlich gewusst haben, dass in Stadtroda Kinder ermordet wurden.
Klar ist auch, dass er dem Kollegen in Stadtroda die „Euthanasie“ des
Kindes unter Umgehung des „vorgeschriebenen“ Verfahrens (Meldung an
den „Reichsausschuss“ et cetera) empfahl.
Die erste so genannte „Fachabteilung“ wurde in Görden/Brandenburg
(Direktor: Dr. Hans Heinze) entweder Ende 1939 oder Anfang 1940
eingerichtet, wobei die näheren Umstände noch der Klärung bedürfen.
Die Zahl der Kindertodesfälle stieg in Görden schon im
September/Oktober 1939 an, die ersten Krankengeschichten von Kindern
mit „Reichsausschussvermerk“ stammen aber erst vom April 1940 (4). In
Görden wurden zahlreiche Ärzte, die dann in anderen „Fachabteilungen“
tätig wurden, im Zuge von Hospitationen mit den mörderischen Praktiken
der „Kindereuthanasie“ vertraut gemacht. Aus Görden wurden im Übrigen
1940 geistig behinderte Kinder und
Jugendliche auch in die Gaskammer nach Brandenburg abtransportiert. Da
von den mehr als 1 200 zwischen 1939 und 1945 in Görden verstorbenen
Kindern nur 130 eindeutig „Reichsauschusskinder“ waren, ist mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass hier
Kinder ermordet wurden, auch ohne das „Reichsausschussverfahren“
durchlaufen zu haben.
Nach Görden wurden weitere „Kinderfachabteilungen“ eingerichtet. Auf
der Grundlage erhaltener Unterlagen der Kanzlei des Führers im
Bundesarchiv Berlin (Sign. NS 11/94), die Sonderzuwendungen des „Reichsaussschusses“
für verdiente Mitarbeiter der „Kinderfachabteilungen“ (vor allem Ärzte
und Pflegepersonal) verzeichnen, sind zunächst 25 „Fachabteilungen“
sicher identifizierbar (siehe Textkasten; die Angaben zum Zeitpunkt
der Einrichtung wurden der Literatur entnommen, sie bedürfen der
Überprüfung).
Da die Aussagen vor allem von Hefelmann in einschlägigen
Nachkriegsprozessen nicht sehr genau waren, bleiben zahlreiche Fragen
noch offen. So wäre zu klären, ob es in Berlin-Frohnau, in Bremen, in
Klagenfurt, in Königsberg, in Meseritz-Obrawalde und in Posen so
genannte „Kinderfachabteilungen“ gab. Unwahrscheinlich erscheinen die
Angaben Hefelmanns, wonach es „in oder in der Nähe von Oldenburg“ oder
„in einer im Braunschweigischen gelegenen privaten Kinderklinik“ eine
„Fachabteilung“ gegeben habe. Keine „Fachabteilungen“ gab es –
entgegen anders lautenden Angaben in der Literatur – in Blankenburg im
Harz, in Bonn (es sind allerdings Kontakte der Bonner
Jugendpsychiatrie mit Waldniel nachgewiesen), in Danzig (gemeint ist
Konradstein) und in Ziegenort bei Stettin (die „Fachabteilung“ befand
sich in Ueckermünde). Zu erwähnen ist noch, dass 1944 in Plagwitz am
Bober eine „Fachabteilung“ geplant war. Sie wurde wohl aufgrund des
Kriegsverlaufs nicht mehr eingerichtet. Man kann beim derzeitigen
Forschungsstand sagen, dass an mindestens 30 Anstalten, Kliniken oder
Heimen „Kinderfachabteilungen“ eingerichtet wurden, von denen
allerdings vier (Marsberg, Leipzig-Dösen, Waldniel, Wiesloch) nicht
bis Kriegsende existierten. Die Existenz weiterer „Fachabteilungen“
ist nicht ausgeschlossen.
Die Morde
Vieles ist noch unklar, was die Organisationsstruktur der
verschiedenen Tötungsorte betrifft, an denen „Fachabteilungen“
existierten. Es scheint so zu sein (dies sagte schon Hefelmann aus),
dass in vielen Anstalten keine separaten „Abteilungen“ ausschließlich
für „Reichsausschusskinder“ bestanden, sondern dass sie oft zusammen
mit anderen Kindern (die ebenfalls ermordet werden konnten)
untergebracht waren. In Bezug auf die Ermordung der Kinder ist
festzuhalten, dass sie in der Regel einzeln geschah. Meist wurde das
Barbiturat Luminal verwendet, als Todesursache wurde meist „natürlicher
Tod“ durch Lungenentzündung angegeben. Erhebliche Unterschiede gab es
in Bezug auf die jeweils in der „Fachabteilung“ betriebene Diagnostik.
Es ist zum Beispiel belegt, dass in Görden, Wien, Berlin-Wittenau,
Kaufbeuren und Loben ein relativ großer Aufwand betrieben wurde. Da
für diese Orte Forschungsaktivitäten involvierter Ärzte belegt sind,
liegt es nahe, die ausgreifende Diagnostik mit dieser Forschung in
Verbindung zu bringen. Die Zahl der ermordeten
„Reichsausschusskinder“, wenn man die von dem beschriebenen
abgrenzbaren Verfahren (Meldebogen, Gutachtervotum) erfassten Kinder
so nennen darf, ist unbekannt. Hefelmann sagte dazu am 11. November
1960 aus: „Wie ich von v. Hegener erfahren habe, sind im Rahmen des
Reichsausschusses von Ende 1939 bis Anfang 1945 etwa 3 000 Kinder
behandelt, das heißt getötet worden. Ich selbst habe darüber keinen
Überblick.“ Dies ist als Minimalzahl anzusehen. Die in der Literatur
meist zu lesende Zahl von 5 000 Kindern ist meines Erachtens eine beim
derzeitigen Forschungsstand akzeptable Schätzzahl. Es ist jedoch zu
berücksichtigen, dass damit nicht alle ermordeten Kinder erfasst sind
(5). Vor allem ältere Kinder wurden auch im Rahmen der so genannten
„Aktion T 4“ ermordet. Und nach dem „Stopp“ der „Aktion T 4“ im August
1941 wurden weitere Kinder in bestimmten Anstalten (auch anderen als
den oben erwähnten „Fachabteilungen“) ohne vorherige Meldung an die
Zentrale des fortbestehenden „Euthanasie“-Komplexes durch Medikamente,
Verhungernlassen oder gezielte Nichtbehandlung getötet. Bezieht man
diese Kinder mit ein, ergibt sich eine Opferzahl, die sicher über 5
000, wahrscheinlich über 10 000 liegt. Eine letzte Bemerkung sei noch
gestattet: Gerade in den Publikationen über den Fall „Ibrahim“ liest
man immer wieder, dass „schwerstgeschädigte“ Kinder in den
„Fachabteilungen“ getötet wurden. Hierzu ist zweierlei zu bemerken:
Zum einen stimmt diese Aussage faktisch nicht, auch wenn man
„schwerstgeschädigt“ durch „schwerstbehindert“ oder Ähnliches ersetzt.
Zum anderen ist dieser Begriff schon deshalb zu vermeiden, weil er ein
typischer „Täterbegriff“ ist: Es handelt sich um eine semantische
Verdunklungsformel, mit der suggeriert werden sollte, dass die
entsprechenden Kinder „lebensunwert“ waren.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A 2766–2772 [Heft 42]
Anmerkungen
1. Zur Vorgeschichte der NS-Euthanasie Benzenhöfer U: Der gute Tod?
Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart. München, C.H.
Beck, 1999, S. 92–114.
2. Dazu ausführlich Benzenhöfer U: Der Fall Kind K. In: Dt Ärztebl
1998; 95: A-1187–1189 [Heft 19].
3. Roth KH und Aly G: Das „Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbar
Kranken“. In: Roth KH (Hrsg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der
Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“, Berlin,
Verlagsgesellschaft Gesundheit, 1984, S. 104.
4. Knaape HH: Kinderpsychiatrie und Euthanasie in Görden und
Brandenburg. In: „Eugenik“ und „Euthanasie“ im sogenannten „Dritten
Reich“. Hoffnungstaler Anstalten Lobetal, unveröffentlichtes
Typoskript, 1990, S. 7–35.
5. Dazu auch Roer D: „Lebens-unwert“. Kinder und Jugendliche in der
NS-Psychiatrie. In: Hamann M und Asbek H (Hrsg.): Halbierte Vernunft
und totale Medizin, Berlin, Schwarze Risse, 1997, S. 107–130.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Udo Benzenhöfer
Abteilung Medizingeschichte
Medizinische Hochschule Hannover
OE 5450
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
Präparierte Gehirne von Kindern, Opfer der NS-„Euthanasie“, im
Gedenkraum einer Psychiatrischen Klinik in Wien
„Kinderfachabteilungen“ laut Verzeichnis der Sonderzuwendungen des
„Reichsausschusses“
- Ansbach, Heil- und Pflegeanstalt (seit 1941 oder 1942)
- Berlin-Wittenau, Städtische Nervenklinik für Kinder (seit Februar
1942)
- Breslau, Krankenhaus Nord (seit spätestens 1943)
- Conradstein, Heil- und Pflegeanstalt (seit 1940? seit 1942?)
- Dortmund-Aplerbeck, Heil- und Pflegeanstalt (seit der zweiten Hälfte
1941; für Marsberg)
- Eglfing-Haar, Heil- und Pflegeanstalt (seit Oktober 1940)
- Eichberg, Landesheilanstalt (seit Frühjahr oder Sommer 1941)
- Görden (bei Brandenburg), Landesanstalt (seit Ende 1939 oder Anfang
1940)
- Großschweidnitz, Landesanstalt (seit Dezember 1943; für
Leipzig-Dösen)
- Hamburg-Langenhorn, Heil- und Pflegeanstalt (seit 1941 oder 1942)
- Hamburg-Rothenburgsort, Privates Kinderkrankenhaus (seit 1941 oder
1942)
- Kalmenhof (Idstein im Taunus), Heilerziehungsanstalt (seit
spätestens 1941)
- Kaufbeuren, Heil- und Pflegeanstalt (seit Dezember 1941)
- Leipzig-Dösen, Heil- und Pflegeanstalt (seit November 1940; Dezember
1943 verlegt nach Großschweidnitz)
- Loben, Heil- und Pflegeanstalt (seit Sommer 1942)
- Lüneburg, Heil- und Pflegeanstalt (seit Oktober 1941)
- Marsberg, Heilanstalt (seit November/Dezember 1940, geschlossen
Dezember 1941)
- Sachsenberg (bei Schwerin), Heil- und Pflegeanstalt (seit August
oder September 1941)
- Stadtroda, Landesheilanstalt (seit 1942?)
- Tiegenhof (bei Gnesen), Landesheilanstalt (seit spätestens 1943)
- Uchtspringe (Krs. Stendal), Landesheilanstalt (seit Juni 1941)
- Waldniel, Heil- und Pflegeanstalt (seit Ende 1941, Anfang 1942)
- Wien, Städtische Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ (seit
Sommer 1940)
- Wiesengrund (Sudetengau), Heil- und Pflegeanstalt (seit spätestens
1942)
Die Liste ist jedoch nicht vollständig. Gesichert sind
„Fachabteilungen“ an folgenden weiteren Orten: Graz, Heil- und
Pflegeanstalt „Am Feldhof“ (wann diese Abteilung eingerichtet wurde,
ist unklar); Schleswig (zunächst – seit Herbst 1941 – in
Schleswig-Hesterberg, dann – seit Februar 1942 – in
Schleswig-Stadtfeld); Stuttgart, Städtische Kinderheime (seit Ende
1942 oder Anfang 1943); Ueckermünde, Heil- und Pflegeanstalt (seit
1941?); Wiesloch, Heil- und Pflegeanstalt (seit Anfang 1941 bis April
1943).
Akten von Opfern der NS-„Kindereuthanasie“. Im Umlaufverfahren
entschied der „Reichsausschuss“ über das Schicksal der gemeldeten
Kinder.
Quelle: http://www.aerzteblatt.de/archiv/24708/
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