|
In
Deutschland ist Abtreibung auch in den letzten
Schwangerschaftswochen möglich, wenn der Fötus behindert ist - doch
viele Ärzte verweigern einen Abbruch aus moralischen Gründen.
Psychiaterin Anke Rohde spricht im SPIEGEL-ONLINE-Interview über
Willkür, gesetzlichen Spielraum und die Folgen für die Eltern. |
Fötus: "In Israel verstehen manche
Kollegen wohl gar nicht, warum wir so ein Problem mit den späten
Abbrüchen haben"
|
SPIEGEL ONLINE:
Frau Rohde, wer die Debatte
um die Neuregelung der Spätabtreibungen verfolgte, konnte den
Eindruck bekommen, immer mehr Eltern und Ärzte würden leichtfertig
bis kurz vor der Geburt eine Schwangerschaft abbrechen, wenn das
Kind behindert ist. Ist das so? |
Rohde: Nein, Eltern machen
sich diese Entscheidung nach meiner Erfahrung ohnehin nie leicht. Aber
seit die Diskussion öffentlich geworden ist, schrecken auch immer mehr
Ärzte davor zurück, diesen Eingriff zu machen. Früher gab es Kollegen,
denen es reichte, wenn das Kind eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte hatte.
Diese manches Mal vielleicht laxe Haltung hat sich ins Gegenteil verkehrt.
Selbst Frauen, die ein Kind mit schwersten Behinderungen erwarten, müssen
heute manchmal von Pontius zu Pilatus laufen, um einen Arzt zu finden, der
die Indikation stellt, und einen zweiten, der den Abbruch durchführt.
SPIEGEL ONLINE: Und das,
obwohl ein bundesweites Gesetz diese Eingriffe bis zur Geburt ermöglicht?
Rohde: Ja, und zwar
unabhängig von der Art und Schwere der Behinderung. Es geht einzig darum,
ob der Arzt zur Überzeugung kommt, dass die Frau durch das Leben mit dem
Kind Schaden nehmen kann. Aber das wird regional sehr unterschiedlich
gehandhabt. In Bayern und in anderen religiös geprägten Gegenden zum
Beispiel werden solche späten Abbrüche nach der 22. Woche einfach gar
nicht mehr gemacht.
SPIEGEL ONLINE: Es hängt
vom Wohnort ab, ob man einen späten Abbruch bekommt?
Rohde: Ja. Und auch jede
Klinik und jeder einzelne Arzt hat das Recht, die Eingriffe nach eigenen
subjektiven Maßstäben zu befürworten oder abzulehnen. Manche machen es
nie, andere nur bis zur 22. Woche. Und natürlich ist die Art der
Behinderung nicht egal. Der eine Arzt hält das Leben mit einem Kind für
unzumutbar, wenn es nur einen halben Arm hat oder einen schweren
Herzfehler. Der andere führt den Abbruch nur bei einer schweren geistigen
Behinderung durch oder wenn er die Frau für suizidgefährdet hält. Es gibt
keine einheitlichen Kriterien. Ich schätze, weit mehr als die Hälfte aller
Wünsche nach einem späten Abbruch wird auf diese Weise abgelehnt. Das
Fatale daran ist: Es wird völlig willkürlich, ob eine Frau den
gesetzlichen Spielraum nutzen kann oder nicht.
SPIEGEL ONLINE: Wird das
von Ihren Kollegen so klar ausgesprochen?
Rohde: Wohl kaum. Ich kenne
Fälle, in denen Paaren beispielsweise in der 19. Woche vom Arzt gesagt
wurde: Jetzt darf man keinen Abbruch mehr machen. Bis die herausbekamen,
dass das nicht stimmt, war das Kind schon über die 22. Woche hinaus, also
in einem Schwangerschaftsalter, wo es noch schwieriger wird, jemanden zu
finden, der den Abbruch macht. Die Fairness würde es gebieten, zu sagen:
'Es tut mir leid, ich dürfte Ihnen zwar helfen, aber ich möchte nicht.'
SPIEGEL ONLINE: Es gibt
doch auch Kliniken und Pränatalzentren, die das liberaler handhaben: Bonn,
Berlin, Hamburg...
Rohde: ...und noch ein paar
andere. Aber es werden immer weniger. Das führt dazu, dass mittlerweile
Kollegen aus der ganzen Republik ihre Patientinnen bei uns abladen. Dann
brauchen sie ihren Namen nicht unter die Indikation setzen, nicht der
Hebamme in der Klinik erklären, warum sie schon wieder so einen schlimmen
Eingriff machen. Die drücken sich vor ihrer Verantwortung, und wir stehen
als die böse Abtreibungsklinik da.
SPIEGEL ONLINE: Welche
Lösung schlagen Sie vor?
Rohde: Die Politik müsste
dafür sorgen, dass im Sinne der Gleichbehandlung Frauen in allen Regionen
Zugang zu diesen Eingriffen haben. Zum Beispiel, indem nur wenige
hochqualifizierte Zentren diese spezielle Diagnostik durchführen dürfen,
die dann auch offiziell zuständig sind für die Indikationen und die
Abbrüche. Das setzt voraus, dass diese Zentren neutral geführt werden. Die
Kollegen dort dürfen als Maßstab nur die körperliche und seelische
Gesundheit der Frau sehen, so wie es das Gesetz verlangt, und nicht eine
Weltanschauung.
SPIEGEL ONLINE:
Entsprechend der Neuregelung müssen Ärzte zukünftig die Frauen vor einer
Indikationsstellung beraten. Ist das nicht eigentlich selbstverständlich?
Rohde: Ich weiß nicht, wie
ein Arzt überhaupt eine Indikation stellen kann, ohne ausführlich mit der
Schwangeren zu sprechen, selbstverständlich auch über die
Lebensperspektiven mit dem behinderten Kind. Aber offenbar gab es da ja
einen Bedarf. Wenn dadurch jetzt mehr Frauen ihr Recht auf psychosoziale
Beratung wahrnehmen, werden sie diese traumatische Situation besser
verarbeiten können. Aber wahrscheinlich werden sich nicht mehr Frauen für
das Kind entscheiden.
SPIEGEL ONLINE: Heute
bleibt Schwangeren dann manchmal nur noch der Flieger nach London oder
nach Rotterdam...
Rohde: ...oder nach Israel.
Dort verstehen manche Kollegen wohl gar nicht, warum wir so ein Problem
mit den späten Abbrüchen haben. Vielleicht liegt das auch daran, dass man
anscheinend in einigen Strömungen des Judentums eine andere Vorstellung
davon hat, wann das menschliche Leben beginnt, nämlich erst nach der
Geburt. So relativ kann das sein.
Das Gespräch führte Beate
Lakotta